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Episode 12: Warlam Schalamow – Biographie und Poetik

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Released Monday, 28th November 2022
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Franziska Thun-Hohenstein spricht mit Stefan Willer über ihre Warlam Schalamow-Biographie »Das Leben schreiben« und den von Gabriele Leupold übersetzten Briefband »Ich kann keine Briefe schreiben« (beide Berlin: Matthes & Seitz 2022). Einleitend erzählt Andreas Rötzer, Verleger von Matthes & Seitz, wie er auf den Autor Schalamow gestoßen ist und welche Bedeutung dieser für den Verlag hat.

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Der 1907 im nordwestrussischen Wologda geborene Warlam Schalamow führte ein Leben zwischen den Extremen. Sowohl der Schriftsteller als auch die historische Figur Schalamow stellen seine Biographin dabei vor Herausforderungen: Wie erzählt man das Leben eines ehemaligen Lagerhäftlings, wenn doch im Lager, so Schalamow selbst, nur Menschen ohne Biographie agieren? Wie geht man damit um, wenn die Person, deren Leben erzählt werden soll, die biographische Form radikal ablehnt? Und wie berichtet man über Ereignisse und Zeiträume, wenn Archivmaterial und andere Quellen vernichtet wurden?

Franziska Thun-Hohenstein versucht gar nicht erst, die Brüche in Schalamows Biographie zu glätten und in eine lineare Erzählung zu überführen. Stattdessen zieht sie zur Dokumentation der Lagerjahre die Untersuchungsakten des NKWD heran, die die Einheitlichkeit des biographischen Narrativs im Buch typographisch wie sprachlich durchbrechen. Aus den Erinnerungen seiner Zeitgenoss*innen an den berühmt-berüchtigten ›Mandelstam-Abend‹ wiederum tritt nicht nur die wahrgenommene Diskrepanz zwischen Schalamows Redetalent und seinem zerbrechlichen Körper zutage. Zusammen mit der im Briefband veröffentlichten umfangreichen Korrespondenz (mit Boris Pasternak, Nadeshda Mandelstam, Aleksandr Solshenizyn und anderen) ergibt sich das Gesamtbild eines widersprüchlichen Charakters, das ein Gegengewicht zu dem sich allmählich herausbildenden Schalamow-Kult zu bilden vermag. Denn die von Gabriele Leupold übersetzten Briefe geben nicht nur Einblicke ins Moskau der Nachkriegsjahrzehnte, sie zeichnen auch ein Bild von Schalamows Selbstdarstellung zwischen Selbstironie und schriftstellerischem Geltungsbedürfnis.

Als Literaturwissenschaftlerin untersucht Thun-Hohenstein in der Biographie, wie Schalamow über sich selbst schreibt, auf welche Traditionen und Mythen er sich beruft und welcher literarischer Verfahren er sich bedient. Aus den Erzählungen über seine Jugendzeit tritt einem beispielsweise der mythische russische Untergrundmensch des 19. Jahrhunderts entgegen, der alles Persönliche hinter sich lässt und sich ganz dem revolutionären Kampf für die Freiheit des Volkes widmet. Diese Revolutionsbegeisterung, die den 17-jährigen Schalamow nach Moskau geführt hatte, fand in seiner Faszination für die Avantgarde Ausdruck. Die Begegnung mit deren Vertretern war für ihn jedoch enttäuschend, schienen sie doch den unbedingten Glauben an das poetische Wort, den Schalamow noch im Lager beibehielt, nicht zu teilen. Die Fähigkeit, das Durchlebte in Sprache zu fassen, war für ihn Gegenstück zur drohenden Auflösung des Menschen im Lager und letztlich Beweis für den Sieg des Lebens über den Tod. Trotz seiner wiederholt betonten Areligiosität beharrte er auf der Fähigkeit des ›lebendigen Wortes‹ zur Auferweckung der Toten.

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Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein ist Herausgeberin der Werkausgabe Warlam Schalamows im Verlag Matthes & Seitz und Senior Fellow am ZfL, an dem sie von 1996 bis 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Von 2008 bis 2015 leitete sie den Forschungsbereich »Plurale Kulturen Europas« und forschte am ZfL unter anderem zu Figurationen des Nationalen im Sowjetimperium und zur Kulturellen Semantik der Schwarzmeerregion. Stefan Willer ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2010–2018 war er stellvertretender Direktor des ZfL.

Gespräch und Lesung wurden am 9.11.2022 im Berliner Haus für Poesie aufgezeichnet.

www.zfl-berlin.org

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